Lieber Friedrich Merz, Sie spalten die Mitte der Gesellschaft!

Ein Appell unserer Kolumnistin an den Kanzlerkandidaten der Union.
Ich weiß nicht mehr, lieber Friedrich Merz, in welche Zukunft Sie unser Land führen wollen, und ich gebe zu, das macht mir Angst. Im November noch hatte ich Vertrauen gefasst in Ihre politische Linie. Nur wenige Monate später schaute die Republik zu, wie Sie Ihre eigene Partei im Reichstag vorführen ließen, weil Sie eine Abstimmung inszenierten, die realpolitisch kaum Folgen gehabt hätte, die es jedoch einer Rechtsaußenpartei ermöglicht hat, im deutschen Bundestag sinngemäß von der historischen Wende zu sprechen, der Sie selbst morgen hinterherlaufen werden. Warum gestatten Sie sich als stolzer Konservativer diese Verhöhnung?
Sie gewinnen kaum einen Prozentpunkt durch diesen Kamikazewahlkampf, aber jene, die im November Vertrauen fassen wollten – die haben Sie nun in Aufruhr versetzt und auf die Straße getrieben. Sie präsentieren sich nicht als der künftige Kanzler, der die Wirtschaft voranbringen wird. Ausgerechnet Konzernchefs von Siemens, Mercedes und Deutsche Bank erheben die Stimme und äußern ihre Sorge um den Ruf des Standorts Deutschland. Wie kann jemand, der so lang in der Wirtschaft die Internationalität gelebt haben wird, in einer politischen Funktion so einfallslos sein? Könnte die Weltläufigkeit nicht Ihre Stärke sein? Stattdessen beschädigen Sie das Erbe von Helmut Kohl, wenn Sie von der Schließung deutscher Grenzen im Alleingang sprechen.
Am vergangenen Wochenende gingen allein in München eine Viertelmillion Menschen demonstrieren. Vorletzte Woche waren es insgesamt Hunderttausende in Hamburg und vor dem Reichstagsgebäude in Berlin: Friedliche Demonstranten, die Sie im Lichtermeer auffordern, nicht der Steigbügelhalter für die Ultrarechten zu werden. Sie selbst tun diese Bürger auf den Straßen mit einem paradoxen Satz ab: “Ich nehme das ernst. Aber als letzte verbliebene Volkspartei lassen wir uns durch Demonstranten nicht vom unserem Kurs abbringen.”
Friedrich Merz sollte die Mitte stärken
Seither werden die Demonstranten als linksgrünversifft beschimpft. Demokraten erklären jetzt Demokraten zum Feind – genau das wollen die Autoritären sehen. Herr Merz, Ihre Rhetorik spaltet die Mitte. Diese Spaltung wird Deutschland den USA ähnlicher machen. Das ist unpatriotisch, wir wollen die deutsche Demokratie mit ihrem Pluralismus. Weshalb wollen Sie mit Rechtsaußen paktieren, statt die Mitte zu stärken gegen alle Ränder?
Lange nicht mehr haben so viele Bundesbürger den Konservatismus beschworen als stabilen Anker für die Demokratie. Warum reicht Ihnen das nicht? Soll jeder demokratische Bürger einzeln Sie auf Knien anbetteln? Sie gewinnen mit Ihrer aktuellen Strategie nicht einen Wähler von Rechtsaußen, aber Sie schaffen ein Klima im Land, in dem wir kaum mehr mit demokratischen Mehrheiten gegen die großen Krisen arbeiten können, auch nicht gegen die Krise der Migration.
Statt die Ränder zu schmelzen, spalten Sie die Mitte in zwei Lager. Einer Ihrer Vorgänger sagte mal, rechts von der Union dürfe es niemanden mehr geben. Da ist jetzt jedoch jemand: autoritäre Kräfte, die international vernetzt sind und national die demokratische Kultur auffressen. Die Bürger, die Sie derzeit kritisieren, wollen in Ihnen eine Bastion sehen gegen diese Bedrohung.
“Hören Sie auf, sich den Extremen anzubiedern”, rufen Ihnen Bürger auf den Straßen zu. Stärken Sie also die Mitte, lieber Herr Merz, statt den äußeren rechten Rand. Diese Rufe gehen nicht gegen Sie, sondern für die Demokratie.